Interview Joachim Veit

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Interview Joachim Veit

Prof. Dr. Joachim Veit über digitale Musikeditionen und ihre Verwertbarkeit für MusikerInnen

Es heißt ja TEXT-Grid. Arbeiten Sie denn als Musikwissenschaftler viel mit Texten?

Veit: Im Zentrum steht für uns selbstverständlich die Musik, also der Noten-Text. Insofern arbeiten auch wir gewissermaßen mit „Texten der besonderen Art“. Aber Wort-Texte spielen ebenfalls eine große Rolle, wenn wir z. B. Briefe und Tagebücher von Komponisten, Rezensionen oder Ähnliches als Quellen heranziehen. Kompliziert wird es immer dann, wenn wir versuchen, Noten-Text und Wort-Text miteinander zu verbinden.

Ist die Notentext-Erstellung im Computer-Zeitalter immer noch so kompliziert?

Veit: Es gibt zwar eine ganze Reihe guter Programme, aber Notenherstellung ist nach wie vor sehr aufwändig und vor allem fehleranfällig, da die modernen, mit graphischen Benutzeroberflächen arbeitenden Programme zahlreiche Automatismen enthalten, die wir für den wissenschaftlichen Bereich umständlich außer Kraft setzen müssen. Bei uns werden Zusätze beispielsweise geklammert oder Bögen in der Mitte unterbrochen, um dem Benutzer Informationen zu den Quellen der Werke zu vermitteln. Solche Feinheiten sind in den Standard-Programmen nicht vorgesehen. Deshalb arbeiten wir hier am Haus im so genannten Edirom-Projekt an der Entwicklung von Werkzeugen für digitale Formen der Musik-Edition. Seit einigen Jahren können wir dem Benutzer z.B. taktweise abrufbare Faksimiles der Noten als graphische Bilder bieten. Das ist für unsere Vermittlungsarbeiten schon ein Riesenfortschritt. Wenn man bei der Sichtung der Handschriften oder frühen Ausgaben für die Erstellung einer Musik-Ausgabe auf unterschiedliche Fassungen stößt, können wir diese Varianten jetzt immerhin graphisch anzeigen. Aber in der Partitur, aus der nachher die Stimmauszüge für die Praxis erstellt werden, sind sie dadurch noch nicht in digital verwertbarer Form enthalten. Eines unserer Hauptziele ist deshalb die Umsetzung von Musik in eine inhaltliche Codierung, mit der wir die vorgefundenen unterschiedlichen Varianten nebeneinander stellen, anzeigen und „benutzen“ können. Wir beteiligen uns daher auch an einem von der University of Virginia in Charlottesville initiierten Projekt, das sich analog zu der Text Encoding Initiative (TEI) „Music Encoding Initiative (MEI)“ nennt. Hier wird versucht, eine Codierung der Inhalte schriftlich notierter Musik für die Wissenschaft zu entwickeln. Im TextGrid-Projekt wollen wir diese Codierung nutzen und dafür ein Eingabe-Tool und auch ein relativ simples Anzeige-Tool bauen.

Schreiben Sie ein eigenes Notensatzprogramm?

Veit: Nein, das schafft man nicht in so kurzer Zeit mit so wenigen Leuten. Es geht zunächst nur um eine rudimentäre Möglichkeit, diesen Code auf graphischer Oberfläche einzugeben bzw. sichtbar zu machen. Denn das Code-Material für eine Notenseite ist sehr viel umfangreicher als im Textbereich für eine Druckseite nötig wäre. Wenn Notentexte maschinell verarbeitbar codiert werden sollen, müssen heute für die Eingabe einer einzigen Partiturseite ein paar tausend Zeilen eingegeben werden, entweder über den Umweg eines rudimentären Imports aus einem anderen Format oder eben wirklich von Hand. Das ist auf Dauer nicht denkbar. Unser Mitarbeiter entwickelt nun eine graphische Oberfläche, in der man beispielsweise bestimmte Notenformen – mit Hals, mit Balken oder mit Dynamik – anklicken kann, so wie man sonst Sonderzeichen anklickt, und dann werden alle Daten innerhalb dieses MEI-Formats automatisch hinterlegt. Mit einem Klick erzeugt man dann manchmal 30 oder 40 Zeilen Code.

Das wird wohl eine Riesenmenge an Sonderzeichen …

Veit: In gewisser Weise ja, aber eines unserer Probleme ist auch, dass es so viele verschiedene Darstellungsmöglichkeiten für ein und denselben musikalischen Sachverhalt gibt. Deshalb gibt es in der Musikwissenschaft im digitalen Bereich auch nur sehr langsame Fortschritte. Recht gut funktioniert die von uns bevorzugte Erfassung von Inhalten schon im Bereich der älteren Musik. Dort stellen die Noten im Prinzip nicht viel mehr dar, als Tonhöhe und Tondauer, vielleicht mit einem unterlegten Text; das lässt sich leicht verarbeiten. Sobald man aber in den Bereich der Klassik oder gar Romantik kommt, tritt eine Vielzahl von Zeichen hinzu und viele davon sind doppel- und mehrdeutig. All diese Details müssen beim Erfassen der Inhalte berücksichtigt werden. Nehmen Sie beispielsweise einen Bogen: er kann anzeigen, dass eine musikalische Phrase zusammenhängt, kann aber auch bedeuten, dass ein Blasinstrument diese Passage legato spielen soll oder ein Streicher danach vom Auf- zum Abstrich wechselt. Oder es gibt diese kleinen Striche, über die in der Musikwissenschaft schon viel gestritten wurde, die vielleicht eine Art Staccato andeuten. Wenn man aber genau hinschaut, können sie unter Umständen auch ganz andere Dinge bedeuten, etwa einen Akzent oder eine bestimmte Spielweise.

Sehen Sie durch die digitalen Untersuchungsmethoden andere Feinheiten als früher?

Veit: Im Edirom-Projekt haben wir eine Art Synopse-Tool entwickelt, mit dem wir fünf oder sechs Quellen taktweise nebeneinander stellen und unmittelbar miteinander vergleichen können. Dadurch rücken plötzlich Details und Unterschiede der Handschriften ins Blickfeld, die man vorher kaum beachtet oder wahrgenommen hat. Leider können wir solche Abweichungen bislang nicht vom Computer suchen lassen. Das ist natürlich unser Fernziel, denn nur so wird das Ganze operationalisierbar.

Ist kollaboratives Arbeiten für Sie ein Thema?

Veit: Für die Weber-Ausgabe kooperieren wir mit Kollegen an der Berliner Staatsbibliothek. Wir greifen alle auf die gleichen Quellenbestände zurück, die meist als Faksimile-Dateien auf unseren Servern in Detmold liegen. Leider haben die Berliner Kollegen Schwierigkeiten, konstante Verbindung zu diesen Servern herzustellen. Dafür wäre das TextGrid ideal, denn damit wäre es überhaupt kein Problem, die großen Datenmengen zugänglich zu machen und gemeinsam daran zu arbeiten. Durch die unterschiedlichen Programme, die jeder verwendet, hatten wir bislang auch häufig den Fall, dass eingebastelte Sonderzeichen nicht überall angezeigt wurden. Da ist es jetzt schon ein Riesenfortschritt, dass unser Mitarbeiter für die Editoren im TextGridLab die musikalischen Unicode-Zeichen inzwischen wirklich allgemein kompatibel integriert hat. Statt wie bisher beispielsweise Einzelnoten als Graphik in den Text zu integrieren, kann man sie jetzt endlich wie Textzeichen eingeben. Gleichzeitig wurde noch einen Sonderbereich geschaffen, der die gängigen Kombinationen musikalischer Zeichen enthält, so dass ich sie direkt am Bildschirm sehen und aus dem TextGrid-Programm einfach per Drag and Drop in andere Programme integrieren kann.

Dann setzen Sie TextGrid also schon aktiv ein, obwohl es sich noch in der Beta-Phase befindet?

Veit: Ja, auch das Wörterbuch-Verbund-Projekt nutze ich regelmäßig bei der Arbeit mit historischen Texten, etwa in der Briefausgabe zum Nachschlagen mir unklarer Begriffe. Das funktioniert nicht nur viel schneller als das Wälzen dicker Lexikonbände, sondern ist durch diese unglaublichen Vergleichsmöglichkeiten in den verschiedenen Wörterbüchern auch viel ergiebiger. Ich verspreche mir außerdem Einiges vom Ankauf des Textkorpus’ der Digitalen Bibliothek: Für uns von direktem Interesse ist z.B. eine darin enthaltene Weber-Biographie, verfasst von Webers Sohn. Es ist immer noch die Standard-Biographie, obwohl sie in sehr vielen Dingen angreifbar ist. Bisher fehlt uns aber eine detaillierte Erschließung, um sie vernünftig benutzen zu können. Wenn wir diese Texte entsprechend aufarbeiten und die Daten durch Anmerkungen anreichern können, werden wir uns sofort darauf stürzen!

Werden eines Tages Dirigenten und Musiker die Noten von Bildschirmen ablesen?

Veit: Das gab es schon einmal versuchsweise bei der Expo 2000. Aber dass das Spielen aus Bildschirmen tatsächlich zur Regel wird, bezweifle ich. Sehr viel größer ist der Vorteil für die Dirigenten. Wenn sie sich im Vorfeld eine Partitur erarbeiten, haben sie eine ganze Reihe von Entscheidungen zu treffen, gerade bei neueren wissenschaftlichen Ausgaben, die den immer vorhandenen Interpretationsspielraum nicht zudecken. Man könnte sich vorstellen, dass ein Dirigent in einem operationalisierten Notentext auf dem Bildschirm die gewählten Varianten anklickt und so die für ihn schlüssige Partitur erstellt. Aus dieser neuen Partitur werden dann die Stimmen herausgezogen, mit denen er zu seinem Orchester geht.

Vor dem Hintergrund solcher Aussichten gleicht meine jetzige Tätigkeit manchmal fast einer Strafarbeit: Ich erarbeite meine Bände zwar mit Hilfe der Edirom-Werkzeuge und würde die dort geschaffenen Möglichkeiten wirklich sehr gerne an die Benutzer weitergeben. Aber wir drucken am Ende noch normale Papierbände und dafür muss ich mich z. B. immer für eine Variante entscheiden und kann den Lesern alle anderen nur in mühsam zu benutzenden, weitgehend bilderlosen Texten anbieten.

Hätten nicht Musiker große Berührungsängste gegenüber digitalen Editionen?

Veit: Unserer Ausgabe von Webers Klarinetten-Quintett haben wir eine DVD mit einem umfangreichen Bericht und allen für die Ausgabe wichtigen Quellen in Faksimiles beigelegt, damit sich jeder selbst ein Bild von den Varianten, aber auch von der Arbeit der Editoren machen kann. Musiker können dieses Wissensangebot auf Wunsch gestuft abrufen und sich nur den Teil ansehen, der ihre jeweilige Stimme betrifft. So werden teuer erstellte wissenschaftliche Editionen auch für ein größeres Publikum nutzbar. Die Reaktion der Praktiker war: „Bitte mehr davon!“

Die Fragen stellte Esther Lauer.

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