Interview Heike Neuroth

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Interview Heike Neuroth

Dr. Heike Neuroth, Projektleiterin TextGrid und Leiterin der Abteilung Forschung & Entwicklung an der SUB Göttingen, über die Nachhaltigkeit Virtueller Forschungsumgebungen und die Grenzen historisch gewachsener Förderstrukturen

Wie sieht es mit der Nachhaltigkeit virtueller Forschungsumgebungen aus?

Neuroth: Das ist ein großes Thema für TextGrid, wie im Grunde für alle virtuellen Forschungsumgebungen. Und bis jetzt gibt es kaum Lösungsansätze. Ich denke, es dürfte relativ klar sein, dass weder die Wissenschaftler noch die Universitäten für das Nutzen eines Dienstes bezahlen sollten. Aber dadurch, dass vor allem Grid-basierte virtuelle Forschungsumgebungen eine gemeinsame Nutzung von verteilten Ressourcen vorsehen, haben wir hier unter anderem auch eine Bund-Land-Problematik: Wenn beispielsweise Ressourcen in einem nicht-niedersächsischen Rechenzentrum zur Verfügung stehen, die von dem Ministerium des dortigen Bundeslands finanziert werden, dann dürfen wir hier in Niedersachen nicht ohne Weiteres darauf zugreifen und damit auch nicht zusammen mit den dortigen Wissenschaftlern mit den Ressourcen arbeiten. Wir dürfen nur die Ressourcen, Hardware und Software, benutzen, die im Rahmen der Grid-Sonderinvestitionen von ca. 25.000.000 € gemeinsam angeschafft worden sind. Die laufen aber Ende 2012 aus. Von da ab dürfen wir auf Ressourcen in anderen Bundesländern eigentlich nicht mehr zugreifen, da sie dann nur noch den Wissenschaftlern dieses Bundeslandes zur Verfügung stehen. Das heißt, wir rennen hier in einen Konflikt: Bundesland-Anschaffungen nur für die Wissenschaftler aus diesem Bundesland versus zunehmende Kooperation oder Kollaboration bundeslandübergreifend und länderübergreifend auf europäischer und weiterer internationaler Ebene.

Müssten die historisch gewachsenen Förderstrukturen geändert werden?

Neuroth: Das wäre gut, denn so wie sie sind, passen sie nicht mehr in eine Zeit zunehmender Vernetzung und Kollaboration. Wenn heute Geisteswissenschaftler immer häufiger überregional zusammenarbeiten, Forschungsdaten teilen, und Tools gemeinsam nutzen, dann muss auch zumindest ein Teil der Fördergelde national aufgebracht werden. Durch die Föderalismus-Diskussion hält sich der Bund aber derzeit aus solchen Investitionen weitestgehend zurück und verweist darauf, dass die Finanzierung von Hochschulen und deren Infrastruktur Ländersache sei. Deshalb stößt die Nachhaltigkeit von virtuellen Forschungsumgebungen, für die Forschungsverbünde aus mehreren Bundesländern zusammenkommen, in Deutschland an strukturelle und politische Grenzen.

Braucht man neue juristische Konzepte?

Neuroth: Ich würde sagen, strukturpolitische Konzepte, die natürlich auch die juristischen Rahmenbedingungen berücksichtigen.

Betrifft dieses Problem nur die Geisteswissenschaften?

Neuroth: Es tritt eigentlich überall da auf, wo länderübergreifend Daten gesammelt, verarbeitet oder gespeichert werden. Nur für einige sehr rechenintensiven Disziplinen wie die Astro- oder Teilchenphysik und die Klimaforschung gibt es bereits zum Teil organisatorische Lösungen. In den Geisteswissenschaften besteht außerdem noch ein weiteres Problem, das Naturwissenschaftler meines Wissens so nicht haben, denn die sind seit Jahrzehnten sehr gut organisiert und koordiniert und können dadurch sehr viel bestimmter auftreten: Die Geisteswissenschaften sind sehr heterogen, sowohl in der Fächerkultur als auch in den Ressourcen-Anforderungen, den Formaten und der Art der Forschungsdaten. Eine Idee von TextGrid war deshalb, dass man zunächst einen großen nationalen Verbund für alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen etabliert, der über Bund-Länder-Mittel verfügt. Dann könnte man genau nachverfolgen, auf welche Ressourcen und Dienste – Metadaten, Annotations-Tool, Lemmatizer oder ähnliches – dieser Verbund zurückgreift. Und der Verbund könnte dann die dafür vorgesehenen Bund-Land-Gelder aufteilen und einige der von den Fachwissenschaftlern abgerufenen oder benötigten Dienste in ein so genanntes Betriebsmodell überführen.

Sie sprechen von diesem Modell in der Vergangenheit? Ist es vom Tisch?

Neuroth: Noch nicht ganz, aber es bräuchte jahrelange Vorbereitung. Wir hätten im Rahmen von TextGrid gerne konzeptionell untersucht, ob so etwas grundsätzlich möglich wäre. Wir wollten wissen, über wie viel Gelder wir hier eigentlich reden und ob eine Bund-Land-Finanzierung machbar ist. Es ist uns aber vom BMBF signalisiert worden, dass das im Rahmen von TextGrid aus formalen Gründen so nicht geht. Statt dessen werden wir uns nun ganz auf TextGrid konzentrieren und zum Beispiel folgenden Fragen nachgehen: Wieviele Forschergruppen und Forscher insgesamt werden TextGrid jetzt aktiv nutzen? Wieviel kostet alleine das Aufrechterhalten des Routine-Betriebs? Was kostet eine pflegerische Entwicklung, also zum Beispiel das Einspielen notwendiger Updates? Und was kostet eine Weiterentwicklung von TextGrid zum Beispiel für den Fall, dass eine Forschergruppe bestimmte Anforderungen hat?

Hat Ihr Göttinger Rechenzentrum Kapazitäten für TextGrid-Daten?

Neuroth: Die GWDG hat einen sehr großen Speicher-Bereich. Aber denken wir beispielsweise an die Daten des Instituts für Deutsche Sprache, das in Mannheim, also in Baden-Württemberg sitzt. Angenommen, die würden kein eigenes Datenzentrum aufbauen, sondern hier in Göttingen anfragen: Dann müssten sie natürlich dafür bezahlen, wohingegen die GWDG für die Nutzung durch die Göttinger Wissenschaftler kostenlos ist. Und es geht ja nicht nur um Speicher-, sondern auch um Rechenkapazitäten.

Welche Lösungsansätze werden diskutiert?

Neuroth: Wir haben in WissGrid versucht, Lösungskonzepte aufzubauen, indem wir grob vereinfacht gesagt haben, dass ein Teil der Förderung nicht direkt an die Rechenzentren gehen sollte, damit diese Ressourcen vorhalten, ohne dass man weiß, wann sie von wem abgerufen werden, sondern dass die Gelder an die virtuellen Forschungsumgebungen fließen, die als Broker zwischen den Wissenschaftlern bzw. Forschergruppen und den Rechenzentren den besten Überblick darüber haben, welche Ressourcen gebraucht werden, und die sich dann – wie auf dem freien Markt eigentlich üblich – nach dem besten Angebot umschauen. So können sie jeweils dasjenige Rechenzentrum wählen, das für diesen Fall die besten Konditionen anbietet. Die Frage der Nachhaltigkeit betrifft ja nicht nur TextGrid. Es gibt noch andere geisteswissenschaftliche Dienste, die in der Vergangenheit entwickelt worden sind, und die am Ende der Projektphase genauso im Nirwana zu versinken drohen wie die TextGrid-Dienste. Gleichzeitig werden immer mehr Zentren wie das Göttinger Centre for Digital Humanities (GCDH) gegründet, die sehr nahe an den fachwissenschaftlichen Anforderungen sitzen. Und es geht im Prinzip darum, eine Aufstellung darüber zu machen, welche Dienste es in Deutschland gibt und welche Fachwissenschaftler, Forschungsverbünde oder Fachdisziplinen sie gerne nutzen wollen. Was kosten die Dienste im Betrieb, im Unterhalt, aber auch vielleicht in der pflegerischen Weiterentwicklung wie regelmäßigen Software-Updates? Es gibt zurzeit meines Wissens noch keine einzige virtuelle Forschungsumgebung in Deutschland, die bereits tragfähige Konzepte umgesetzt hätte, an denen wir uns orientieren könnten.

Wenn es keine weitere Förderung gibt, dann läuft TextGrid bereits 2012 aus. Wo liegen in dem Fall die von Ihnen entwickelten Daten und Dienste?

Neuroth: Die liegen dann verteilt. Es gibt Dienste, für die bestimmte Universitäten zuständig sind, wie Würzburg oder Darmstadt. Das Repository, also das Datenzentrum, wird in Göttingen liegen, dafür hat die SUB die Verantwortung übernommen. Aber ich glaube nicht, dass es soweit kommt, also dass wir im Mai 2012, direkt nach Ende, alles abschalten. Wir haben ja Forschungsprojekte, die bereits in TextGrid investiert haben. Das ist genau das, was mir am meisten Sorgen macht: Es geht im Prinzip jetzt erst richtig los! Es bildet sich eine Forscher-Community; das Interesse ist riesengroß. Es gibt Forschungsverbünde, die konkret und direkt bei TextGrid arbeiten wollen und es bereitet uns große Kopfschmerzen, dass wir nicht wissen, wie wir denen über 2012 hinaus einen stabilen und verlässlichen Dienst zur Verfügung stellen können, ohne dass wir Unterstützung aus der Politik und von den Förderern erhalten. Wir arbeiten daher mit Hochdruck an Konzepten und ich hoffe, dass wir alle gemeinsam bis Anfang 2012 konkrete Ideen haben.

Könnten Sie sich, falls es keine Länder übergreifende Förderung gibt, auf Niedersachsen zurückziehen?

Neuroth: TextGrid war immer kooperativ angelegt und hat mehrere Bundesländer betroffen, also würde ich das kaum als Erfolg betrachten. Wir können auf der einen Seite die Wissenschaftler nicht motivieren und unterstützen, global vernetzt kooperativ und kollaborativ zu forschen und auf der anderen Seite uns auf Provinz-Politik zurückziehen. Entschuldigung, wenn ich dies so deutlich sage! Aber meines Erachtens muss hier nicht der einzelne Wissenschaftler das Nachhaltigkeits-Problem lösen, sondern wir alle zusammen, in erster Linie Politik, Förderer, Infrastruktureinrichtungen und Wissenschaft.

Sind Sie hinter Ihrem Zeitplan zurück?

Neuroth: Eigentlich sind wir unserem Plan voraus. Wir haben gerade mit unserem Festakt eine Version 1.0 veröffentlicht, die wir eigentlich erst im Mai nächsten Jahres veröffentlichen wollten. Diese Version 1.0 beinhaltet noch nicht all das, was im Mai nächsten Jahres dabei sein sollte. Aber wir haben die Veröffentlichung vorgezogen, weil wir von den Forschergruppen gedrängt wurden, die TextGrid jetzt endlich einsetzen und damit arbeiten wollen. Das Problem der Nachhaltigkeit haben wir mit Sicherheit unterschätzt. Und wir sind auch in WissGrid, wo das sogar ein Hauptschwerpunkt ist, nicht so schnell weiter gekommen wie gedacht und gewünscht. Wir können dies auch nicht alleine lösen. Dafür brauchen wir Bund-Land-Förderer und Entscheidungsträger.

Die Fragen stellte Esther Lauer.

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